WSJF Methode – Ein einfaches Werkzeug zur Projektpriorisierung
WSJF (Weighted Shortest Job First) ist eine Methode zur Priorisierung deines Backlogs oder Projektportfolios. Die WSJF Methode stammt ursprünglich von Don Reinertsen und ist ein Werkzeug im Rahmen des Scaled Agile Framework (SAFe).
In diesem Artikel erkläre ich dir den Aufbau der WSJF Methode. Dabei zeige ich dir, wie Du mit ein paar individuellen Anpassungen die WSJF Methode auch über die Software- und Produktentwicklung hinaus in deinem Kontext nutzen kannst.
Wofür priorisieren - Priorisierung als Basis für Wertmaximierung
Andreas DiehlLieber ein bisschen alles, statt alles ein bisschen.
Natürlich haben wir alle mehr Ideen als Kapazitäten. Und je länger die Liste unserer Ideen ist, desto schwieriger und anstrengender ist eine Priorisierung. Denn Priorisierung bedeutet Entscheidungen zu treffen. Nämlich darüber, was Du präferierst, was erstmal nicht gemacht wird oder auch welche Vorhaben Du einstellst. Das ist aus mehreren Gründen eine unbequeme Aufgabe. Zum einen leiden wir alle unter Verhaltensheuristiken, die zu suboptimalen Entscheidungen führen. Zum anderen erfordert eine gute Priorisierung , dass Du eine hohe Klarheit über dein Vorhaben gewinnst, den Kontext und die Domäne verstehst, um überhaupt entscheiden zu können. Das erfordert Zeit und könnte möglicherweise mit der unbequemen Einsicht enden, dass ich Vorhaben noch nicht umfassend genug verstanden habe, um sie gut priorisieren zu können. Das führt dann dazu, dass in vielen Organisationen lieber alles ein bisschen, statt ein bisschen alles gemacht wird.
Priorisieren bedeutet Führung übernehmen
Dabei ist die konsequente Priorisierung anstehender Aufgaben eine wichtige Aufgabe. Das gilt für Dich in deiner Rolle als Product Owner oder Verantwortlicher für ein Projektportfolio. Denn mit einer klaren Priorisierung vermeidest Du eine Überforderung deiner Teams und deiner Organisation. Diese Form der Überlastung ist ganz im Sinne des Lean Management eine Verschwendung (“Muri”), die es unbedingt zu vermeiden gilt. Und die WSJF Methode ist ein einfaches Werkzeug, um Klarheit zu erlangen und Priorisierung in der täglichen Praxis umzusetzen. Damit stellst Du sicher, dass Du nachhaltigere Werte für Kunden und deine Organisation schaffst.
Konzeptionelle Grundlagen der WSJF Methode
Mit der WSJF Methode identifizierst Du die Jobs, die die schnellste Wertgenerierung in Aussicht stellen. Ein “Job” steht dabei stellvertretend für ein Feature, ein Epic, eine Capability oder ein Projekt. Zu jedem Job berechnest Du den WSJF aus den Costs of Delay (CoD) und der Jobs Size. Je höher der WSJF Wert, desto höher wird der Job priorisiert.
Costs of Delay (CoD)
Die Costs of Delay sind vereinfacht gesagt eine Annäherung an den erwarteten Wert.
- User- und Business-Value: Wie profitiert der Kunde (User Value), wie profitieren wir als Unternehmen (Business Value)?
- Time Criticality: Gibt es also auf der Zeitachse feste Deadlines und damit verbunden die Gefahr, dass der Wert gar nicht mehr erzielt werden kann (weil z.B. ein wichtiger Kunde auf ein Feature wartet und bei Nicht-Bereitstellung auf eine andere Lösung gehen würde)? Hat eine mögliche Fertigstellung in xx Monaten noch den gleichen Wert wie heute?
- Risk Reduction und / oder Opportunity Enablement: Gibt es Risiken, die wir mit einer Umsetzung des Job senken? Bauen wir mit der Umsetzung neue Kompetenzen oder technische Capabilities auf, von denen andere Vorhaben profitieren?
Das heißt, deine “Costs of Delay” werden positiv beeinflusst von dem direkten Mehrwert für Kunden und Unternehmen und zusätzlichen Randbedingungen, die es sinnvoll machen mit der Umsetzung besser jetzt als morgen zu starten.
Job Size
Die Job Size ist eine Annäherung an den erwarteten Aufwand bzw. eine Aussage darüber, wie lange es braucht den Wert zu liefern. Dabei unterstellst Du der ursprünglichen Formulierung der WSJF Methode in Anlehnung an agile Spielregeln, dass ein festes Team dauerhaft an der Umsetzung arbeitet. Unter diesen Voraussetzungen ist die benötigte Zeit für die Umsetzung eines Vorhabens eine valide Annäherung an den Aufwand eines Vorhabens. Da diese Voraussetzung jedoch in vielen Situationen nicht gegeben ist, zeige ich dir weiter unten, wie Du die Job Size mit ein paar Erweiterungen auch für deine Vorhaben ermitteln kannst.
Aufwand und Wert schätzen - Relative statt absoluter Schätzung
Die dritte konzeptionelle Grundlage der WSJF Methode ist die relative Schätzung der Cost of Delay und der Job Size. Das heißt, Du schätzt für alle zu priorisierenden Jobs die Cost of Delay und die Job Size auf einer relativen Skala von 1-10. Die Bewertungsskala solltest Du je nach Anzahl der zu bewertenden Jobs erweitern.
Nachdem Du für alle Jobs die Cost of Delay und die Job Size relativ zueinander geschätzt hast, berechnest Du den WSJF Wert und priorisierst dein Portfolio nach dem höchsten WSJF Wert. Das folgende Beispiel ist eine einfache Darstellung in der Job A und Job B priorisiert werden.
Cost of Delay | Job Size | WSJF | |
---|---|---|---|
Feature / Projekt A | 4 | 8 | 0,5 |
Feature / Projekt B | 2 | 2 | 1 |
Das heißt, obwohl das Projekt A einen höheren Wert verspricht, ist Projekt B höher zu priorisieren. Denn auch wenn Projekt B einen geringeren Wert verspricht, führt die deutlich geringere Job Size zu einem vorteilhafteren WSJF.
Mit der WSJF Methode arbeiten
Kommen wir zur Frage, wie Du WSJF für Dich arbeiten lassen kannst. Ich habe im praktischen Einsatz gemerkt, dass ein paar zusätzliche Schritte helfen, um die oben skizzierten konzeptionellen Grundlagen auch über die Produkt- und Softwareentwicklung hinaus erfolgreich anzuwenden.
Ich zeige Dir nun, wie Du WSJF für deinen Kontext anpasst. Mach Dir vorher am besten eine Kopie des WSJF Template und hinterlasse deine offenen Fragen zur Vorlage oder Vorgehen gerne in den Kommentaren.
Schritt 1: Bewertungsrahmen für die “Cost of Delay” definieren
Zunächst definierst Du den Bewertungsrahmen für die “Cost of Delay”. Ich habe mich in meinem Template dazu entschieden den User- und Business Value getrennt abzufragen. Mit einer differenzierten Betrachtung der Kunden- und Unternehmensinteressen motivierst Du eine Gruppe zu einer systematischen Auseinandersetzung mit den Kundenbedürfnissen. Damit sinkt das Risiko am Kunden vorbei zu arbeiten und nur die Unternehmensinteressen zu verfolgen. Außerdem frage ich die Dimensionen Risiko und Opportunity Enablement getrennt ab. Das kann gerade in Industrien Sinn machen, die sich durch eine hohe Regulatorik auszeichnen. In Summe führt das zu fünf Dimensionen, um die “Cost of Delay” zu ermitteln.
- Customer Value: Welchen Wert generiert das Vorhaben für den Kunden?
- Business Value: Welchen Wert generiert das Vorhaben für unser Unternehmen?
- Wert Degression bzw. Time Criticality: Ist die Umsetzung zeitkritisch? D.h. würde eine spätere Umsetzung weniger Wert schaffen?
- Opportunity Enablement: Schaffen wir mit diesem Job wichtige (technische) Voraussetzungen, um erfolgreich an anderen Vorhaben / Jobs zu arbeiten?
- Risikoreduktion: Gibt es irgendwelche Risiken, die wir mit der Umsetzung senken? Laufen wir z.B. Kunden zu verlieren oder wichtige regulatorische oder formale Vorgaben nicht einzuhalten?
Die "Cost of Delay" in deinem Team besprechen
Um die Bewertung der “Cost of Delay” für deinen Anwendungsfall anzupassen, solltest Du folgende Fragen beantworten:
- Welche der fünf Dimensionen sind für uns relevant?
- Wie gewichten wir die einzelnen Dimensionen?
- Welche Leitfragen sind für uns ergänzend zu den oben genannten in den einzelnen Dimensionen repräsentativ?
Damit hast Du einen Bewertungsrahmen geschaffen, um die “Cost of Delay” für dein Backlog oder Portfolio zu schätzen.
Schritt 2: Bewertungsrahmen für die “Job Size” definieren
Die “Job Size” habe ich in meinem Template um zwei Dimensionen erweitert, um sie auch über die Softwareentwicklung hinaus und erst recht für Vorhaben im Zuge der digitalen Transformation anwendbar zu machen. Denn der Aufwand deines Teams ist wie in der ursprünglichen Darstellung der WSJF Methode nur unter folgenden Voraussetzungen ein ausreichendes Kriterium für die Job Size:
- Du kannst alle Leistungen in deinem Team selbstwirksam erbringen
- Du hast “end-to-end” Verantwortung für die erfolgreiche Implementierung / Platzierung des Vorhabens.
Sofern eine dieser Bedingungen verletzt wird, brauchst Du in meinem Verständnis weitere Dimensionen für eine gute Schätzung der “Job Size”, erst recht für die Umsetzung von Maßnahmen im Kontext der digitalen Transformation. Deswegen habe ich mich entschieden für die “Job Size” folgende Aspekte zu schätzen:
- Aufwand der Umsetzung (im Team).
- Komplexität der Implementierung: Wenn Du z.B. neue Abläufe oder Prozesse implementierst oder den Kunden auf digitale Bestelleingänge umstellen willst, muss das nicht auf Gegenliebe stoßen. D.h. nicht alleine der Aufwand für die Umsetzung eines Vorhabens ist entscheidend, sondern vor allem der Aufwand es erfolgreich “auf die Straße zu bringen”. Ich beobachte, dass dieser Aufwand doppelt so hoch ist wie der Aufwand der Umsetzung.
- Externe Sach- und Entwicklungskosten: Schließlich kann es sein, dass Du bzgl. der Umsetzung auch auf externe Hilfe angewiesen bist.
Wie auch bei den “Cost of Delay” entscheidest Du im Team, welche Dimensionen ihr betrachten, wie ihr sie gewichten wollt und welche konkreten Leitfragen maßgeblich sind.
Schritt 3: Relativen Aufwand schätzen
Nachdem Du also einen Bewertungsrahmen für die “Cost of Delay” und die “Job Size” definiert hast, beginnst Du mit der eigentlichen Arbeit in deinem WSJF Template. Dabei gehst Du wie folgt vor.
- Backlog listen
Zunächst listest Du dazu alle “Jobs” die Du priorisieren willst. Das können Projekte, Features oder auch Epics sein. Wichtig ist nur, dass Du nicht Äpfel mit Birnen vergleichst, also z.B. ein Projekt mit einem Feature. Das heißt, in dieser Liste dürfen nur Jobs des gleichen Typs stehen.
- Bewertungsskala definieren
Typischerweise schätzt Du auf einer Skala von 1 bis 10. Aber natürlich sollte die Skala in Relation zur Anzahl deiner Jobs aus Schritt 1 stehen. Definiere also eine passende Bewertungsskala.
- Bewertungsregeln definieren
Bei Teams und Gruppen, die “stark zur Mitte” tendieren, kann es zudem sinnvoll sein eine Regel zu etablieren, dass jeder Wert nur einmal vergeben werden darf. Eine zweite Regel könnte sein, dass MIN und MAX Wert der Skala unbedingt vergeben werden müssen.
- Erste Dimension auswählen:
Startet die Priorisierung mit der ersten Dimension z.B. “Customer Value”.
- Ausreisser suchen
Entscheidet euch innerhalb dieser Dimension für den Job mit dem höchsten Wert. Im Anschluss definiert ihr den Job mit dem niedrigsten Wert.
- Alle Jobs bewerten
Nachdem Du mit deinen Ausreißern Referenz geschaffen hast, bewertest Du alle Jobs der ausgewählten Dimension in Relation dazu. Du bist fertig, wenn alle Jobs in Bezug auf die aktuelle Dimension (in diesem Beispiel “Customer Value”) einen Wert haben.
- Alle Dimension bewerten
Im Anschluss gehst Du auf die nächste Dimension, z.B. “Business Value” und wiederholst die Schritte 5. und 6. Wiederhole das Vorgehen für alle deine Dimensionen.
Schritt 4: WSJF Wert final besprechen
Nachdem Du alle Jobs in allen Dimensionen bewertet hast, erhältst Du einen eindeutigen WSJF Wert. Du kannst deine Tabelle nun nach dem höchsten Wert sortieren. Dieses Vorhaben ist das Feature oder Projekt mit der höchsten Priorität. Es kann und wird passieren, dass sich dieser Einsicht weitere Diskussionen anschließen. Da meldet sich unter Umständen das unbewusste Erfahrungswissen. Das heißt, “intuitiv” passt da was nicht. Geht ruhig zurück in die Diskussion, versucht zu verstehen, was ihr übersehen habt und wie es zu dem WSJF Wert kam. Wichtig ist nur, dass Du nun nicht anfängst, wieder alles in Frage zu stellen. Viele Leute haben an dieser Stelle Probleme damit, dass nun Dinge erstmal nicht gemacht werden. Das darfst Du als Product Owner oder Verantwortlicher für ein Portfolio aushalten und dann eine Entscheidung treffen. Schließlich hast Du nun die Jobs ausgewählt, die die schnellste Wertgenerierung in Aussicht stellen.
Fazit - WSJF ermöglicht strukturierte Diskussionen und eine wirkungsvolle Priorisierung
Der große Vorteil der WSJF Methode ist weniger der eindeutige Wert, als vielmehr die Diskussion, die Dich zu diesem Wert führt. Dabei ermöglicht die sehr granulare Betrachtung in Verbindung mit der relativen Schätzung eine sehr zielgerichtete und strukturierte Diskussion mit einem eindeutigen Ergebnis. Zudem kannst Du in diesen Prozess zahlreiche Personen involvieren, um viele Sichtweisen in deine Priorisierung einfließen lassen. Damit hast Du ein transparentes und vor allem kollaboratives Vorgehensmodell für die Priorisierung deiner Vorhaben geschaffen.
Viel Erfolg dabei.
Andreas Diehl
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