Vom Core Product zum Whole Product – Wie Du eine ganzheitliche Produktstrategie definierst
Das Whole Product Concept ist ein Modell zur ganzheitlichen Betrachtung deines Produktes. Dabei geht es im Kern um eine differenzierte, mehrstufige Betrachtung deines Produktes, um vom Core Product zu einer Whole Product Betrachtung zu gelangen.
- Das Core Product entspricht dem Kern und dem abtrakten Grundnutzen eines Produktes. Bei einer Zahnbürste ist das Core Product die Zahnreinigung.
- Das Whole Product berücksichtigt alle ergänzenden Dimensionen eines Produktes über das Core Product hinaus. So erwarte ich als Kunde bei einer Zahnbürste ergonomische Griffe, elektronischen Antrieb und träume als Product Owner vielleicht von selbstreinigenden Bürstenköpfen.
In diesem Artikel findest Du eine Einführung zum Whole Product Concept, die unterschiedlichen Abstufungen mit zahlreichen Beispielen und schließlich eine Anleitung, wie Du mit dem Whole Product Model arbeitest.
Nutzen des Whole Product Concepts
Das Whole Product Concept klingt auf den ersten Blick etwas theoretisch, hat es aber praktisch aus zwei Gründen in sich.
- Strategisch, um bessere Marketing- und Produktstrategien zu definieren. Bei technologiegetriebenen Innovationen ist das Whole Product Concept zudem ein wichtiger strategischer Eckpfeiler beim Übergang von den Early Adoptern in den Massenmarkt.
- Organisatorisch für die sinnvolle Besetzung der Product Owner Rolle. Denn zu oft gibt es bei Software- und digitalen Produkten die Tendenz, Produkte in kleine technische Artefakte zu zerlegen und mit zahlreichen Product Ownern für mehr Verwirrung als Klarheit zu sorgen. Nicht umsonst ist ein “Whole Product Focus” eine der tragenden Prinzipien des LeSS Frameworks.
Es lohnt sich also gleich zweifach, sich mit den Aspekten des Whole Products auseinanderzusetzen.
Die Whole Product Theorie
Die Idee, Produkte ganzheitlich zu betrachten, ist schon über 50 Jahre alt. Und so haben sich in den vergangenen Jahrzehnten gleich mehrere Akademiker und Praktiker mit dem Whole Product Concept beschäftigt. Zumindest ein grobes Verständnis ist wichtig, weil diese Konzepte aufeinander aufbauen und teilweise auch miteinander vermischt werden.
- Den Anfang machte Philip Kotler mit Three levels of a product (1967) und einer
- dreistufigen Unterteilung eines Produktes in Core Product, Actual und Augmented Product.
- Das Whole Product Concept (1980) von Theodore Levitt erweitert das traditionelle Whole Product Concept um die Erwartungen des Kunden (Expected Product) und zukünftige Erweiterungen (Potential Product).
- Schließlich entwickelte Philip Kotler seine Ideen mit den Five Product Levels (2003) weiter und integrierte das Whole Product Concept von Theodore Levitt. So entstand ein Modell mit insgesamt fünf Abstufungen: Core Product, Generic, Expected, Augmented und Potential Product.
Erwähnenswert ist außerdem das Whole Product Concept von Geoffrey Moore, Autor des Buches “Crossing the Chasm”. Darin beschreibt er ein zweistufiges Whole Product Modell, das sich konkret auch auf technologische Produkte und Innovationen bezieht. Darauf gehe ich weiter unten ein, aber zunächst eine ganzheitliche Whole Product Definition.
Whole Product Definition - Abstufungen im Whole Product Concept
Bei meiner Whole Product Definition orientiere ich mich maßgeblich am Aufbau der Five Product Levels von Philip Kotler. Wenn Du diese Abstufungen erst einmal verinnerlicht hast, kannst Du sie auch beliebig wieder verdichten.
- Core Product: Der abstrakte Grundnutzen des Produktes.
- Generic Product: Die minimale (physische) Basisversion deines Produktes.
- Expected Product: Die Mindestanforderungen des Kunden.
- Augmented Product: Erweiterungen, die das Produkt attraktiver machen
- Potential Product: Alle möglichen zukünftigen Erweiterungen und Innovationen.
Diese fünfstufige Unterteilung kannst Du einfach in das Whole Product Concept von Theodore Levitt überführen. Dabei entsprechen die ersten beiden Stufen der Five Product Levels der ersten Stufe im Whole Product Concept von Theodore Levitt, der Rest ist weitgehend identisch.
Core Product
Das Core Product entspricht dem abstrakten Grundnutzen des Produktes. Ich mag diese minimalistische und abstrakte Betrachtung, weil Du damit einen klaren Blick auf dein zentrales und ureigenes Leistungsversprechen richtest, ohne dich dabei in Features zu verlieren.
Beispiel: Bei einem Auto ist “Mobilität” das Core Product. Vielleicht sogar “unabhängige Mobilität”, um schon auf der Ebene des Core Products eine erste Differenzierung zu berücksichtigen.
Das heißt, das Core Product ist noch kein Produkt zum Anfassen, sondern beschreibt nur auf einer abstrakten Ebene, welchen Job und welche Aufgabe der Kunde mit dem Produkt erledigen will.
Generic Product
Das Generic Product repräsentiert die (physische) Basisversion deines Produktes, ohne Extras oder besondere Eigenschaften. Das heißt, der Kunde kann das Produkt schon nutzen, um den eigentlichen Zweck (Core Product) zu erfüllen. Dabei ist das Generic Product allerdings so generisch, dass es beliebig gegen ein anderes Produkt austauschbar ist.
Beispiel: Ein einfaches Auto ohne Extras, das dich sicher und zuverlässig von A nach B bringt. Dabei ist Mobilität das “Core Product”, die nackte Basisversion des Autos mit Rädern, Karosserie, Sitzen und Motorisierung das “Generic Product”.
Das heißt, das Generic Product stellt Basis-Funktionalitäten bereit, mit denen der Kunde sein eigentliches Ziel bereits zuverlässig erfüllen kann. Ohne dass der Kunde dabei in Freudentränen ausbricht oder dir eine 5 Sterne Bewertung hinterlässt.
Expected Product
Das Expected Product umfasst die Merkmale deines Produktes, die Kunden als Standard erwarten. Also all jene Eigenschaften und Features, die erfüllt sein müssen, damit der Kunde zufrieden ist.
Beispiel: Bei einem Auto erwartet der Kunde über das Generic Product hinaus (das nackte Auto ohne Extras) auch grundlegende Funktionen wie Sicherheitsgurte, eine Klimaanlage und ein funktionierendes Navigationssystem.
Das Expected Product deckt also jene Eigenschaften deines Produktes ab, die vom Kunden erwartet werden. Im Kano Modell entspricht das Expected Product den Leistungsmerkmalen deines Produktes, je mehr desto besser. Im Idealfall kannst Du Erwartungen des Kunden antizipieren oder sogar übertreffen.
Augmented Product
Das Augmented Product umfasst zusätzliche Features und Services, die dein Produkt attraktiver machen. Es sind die Extras, die den Kunden überraschen und zusätzlichen Komfort und Mehrwert bieten.
Beispiel: Eine erweiterte Garantie, kostenloser Wartungsservice oder ein modernes Infotainmentsystem. Diese Merkmale gehören zum Augmented Product, weil sie dem Kunden mehr bieten als erwartet.
Mit dem Augmented Product differenzierst du dich strategisch mit Features, die den Kunden begeistern und die Kaufentscheidung maßgeblich beeinflussen. Damit deckt das Augmented Product jene Eigenschaften ab, die dir aus dem Kano Modell als Begeisterungsmerkmale bekannt sind.
Potential Product
Das Potential Product umfasst alles, was dein Produkt in der Zukunft noch bieten könnte. Es beschreibt die möglichen Erweiterungen und Innovationen, die das Produkt noch verbessern oder verändern könnten.
Beispiel: Autonomes Fahren, Flugeigenschaften oder völlig neue Antriebstechnologien. Diese Features sind zwar aktuell noch nicht verfügbar, könnten aber in Zukunft das Produkt revolutionieren.
Das Potential Product zeigt also die Zukunftsperspektiven deines Produktes auf, um Kunden langfristig zu begeistern und am Markt erfolgreich zu bleiben. Das Potential Product ist für den Kunden in der Gegenwart also irrelevant, weil es sich auf zukünftige Entwicklungen bezieht.
Weitere Whole Product Beispiele
Die folgenden Beispiele des Whole Product Concepts bauen ebenfalls wieder auf der fünfstufigen Unterteilung ein und helfen dir, ein besseres Verständnis des Whole Product Concepts zu entwickeln.
Zahnbürste
- Core Product: Zahnreinigung zur Entfernung von Plaque und Förderung der Mundgesundheit.
- Generic Product: Einfache manuelle Zahnbürste mit Bürstenkopf und Griff, ohne Extras.
- Expected Product: Angenehme Griffigkeit, weiche oder mittlere Borsten, gründliche Reinigung, Haltbarkeit.
- Augmented Product: Ergonomischer Griff, Borsten mit speziellen Eigenschaften (z.B. Plaque-Entfernung), austauschbare Bürstenköpfe, Indikatoren für Wechsel von Borsten.
- Potential Product: Selbstreinigende Borsten, nachhaltige Materialien (z.B. biologisch abbaubar), antibakterielle Beschichtungen, integrierte Apps zur Putzanalyse durch manuelle Eingaben.
Kaffeemaschine
- Core Product: Zubereitung von Kaffee.
- Generic Product: Einfache Filterkaffeemaschine, die Wasser durch gemahlenen Kaffee filtert, ohne Extras.
- Expected Product: Wassertank, Filterhalter, Glaskanne, grundlegende Bedienfunktionen wie Ein/Ausschalter.
- Augmented Product: Programmierbarer Timer, automatische Abschaltung, wiederverwendbare Filter, Tropfstopp, wärmeisolierte Kanne.
- Potential Product: Automatische Nachfüllung von Wasser und Bohnen, Integration mit Smart-Home-Systemen, App-gesteuerte Personalisierung von Kaffeezubereitungen, selbstreinigende Funktionen.
Smartphone
- Core Product: Kommunikation (Anrufe, Nachrichten).
- Generic Product: Einfaches Smartphone mit grundlegenden Funktionen wie Anruf, SMS und minimaler Kamera, ohne Extras.
- Expected Product: Touchscreen, Kamera, Internetzugang, App-Store, WLAN, Bluetooth.
- Augmented Product: Hochauflösendes Display, lange Akkulaufzeit, Fingerabdrucksensor, Gesichtserkennung, 5G, kabelloses Laden.
- Potential Product: Faltbare Displays, holografische Projektionen, vollintegrierte KI-Assistenten, erweiterte Gesundheitsüberwachung durch Sensorik, vollständig modulare Smartphones.
Laptop
- Core Product: Möglichkeit, Programme auszuführen und Aufgaben zu erledigen (z.B. Schreiben, Surfen, Rechnen).
- Generic Product: Einfacher Laptop mit Basisfunktionen: Bildschirm, Tastatur, Prozessor, minimaler Speicher, ohne Extras.
- Expected Product: Betriebssystem, WLAN, ausreichender Speicherplatz, USB-Anschlüsse, Akku, funktionierendes Touchpad.
- Augmented Product: Hochauflösendes Display, langer Akku, SSD-Speicher, beleuchtete Tastatur, Fingerabdrucksensor, leistungsstarke Prozessoren.
- Potential Product: Faltbare oder transparente Displays, holografische Projektionen, KI-gestützte Leistungsoptimierung, komplett modulare Laptops, Augmented Reality-Integration.
Whole Product Concept - Geoffrey Moore
Geoffrey Moore verwendet in “Crossing the Chasm” eine vereinfachte Version des Whole Product Concepts. Dabei definiert er das “Core Product” als dein eigentliches Produkt, das Kunden alleinstehend nutzen können. Ergänzende Services und Dienstleistungen helfen dabei, die Zielgruppen des Mainstream-Marktes zu gewinnen, die Standards und Einfachheit erwarten. Das “Whole Product Concept” ist dabei ein wesentlicher Eckpfeiler der Chasm-Strategie.
- Standards & Procedures
- Additional Software
- Additional Hardware
- System Integration
- Installation and Debugging
- Change Management
- Training and Support
Geoffrey MooreWinning the whole product battle means winning the war.
Mit dem Whole Product Concept arbeiten
Wie eingangs erwähnt, hilft das Whole Product Concept bei strategischen und organisatorischen Entscheidungen. Dabei gilt für mich ein einfacher Grundsatz: Strategie geht vor Organisation. Die Organisation dient der Strategie und nicht umgekehrt. Und das Whole Product Concept ist ein Rahmenwerk, um deine Produktstrategie auszuarbeiten und darauf aufbauend gute Entscheidungen für die Besetzung der Product Owner Rolle zu treffen.
Hier ein paar erste Tipps und Punkte, wie Du mit dem Whole Product Concept am besten in einem Workshop arbeiten kannst.
- Welches Problem versuchst Du mit der Einführung des “Whole Product Concepts” zu lösen? Also welchen “Job” nimm das Whole Product Model dir ab?
- Stelle das zu lösende Problem als Arbeitsauftrag für die Gruppe vor.
- Erkläre das ausgewählte Modell.
- Geht das Whole Product Concept an einem einfachen Beispiel durch.
- Diskutiert die Abstufungen vom Core Product bis zum Potential Product. Dabei sind aus meiner Erfahrung folgende Punkte spannend:
- Das “Core Product”, weil es in "Plain german” den Nutzen erklärt, ohne den ganzen Marketing-TamTam.
- Expected vs Augmented Product: Dabei zeigt sich, wie “nah” ihr am Kunden seid bzw. inwiefern ihr euch nur "ausdenkt", was er erwartet. Zudem können sich Merkmale verschieben, also was zum Augmented Product zählt, kann morgen schon Teil des Expected Products sein.
- Das Potential Product solltet ihr auf keinen Fall auslassen, das ist im Kern die Produktvision, an der ihr euch langfristig orientiert, die ihr kommuniziert und die Early Adopter vielleicht sogar zum Kauf bewegt.
Fazit - Der Weg zum Whole Product Owner
Das Whole Product Concept ist ein wichtiges Konzept, um ganzheitliche Produktstrategien zu formulieren, konsequentes Product Leadership zu etablieren und die Rolle des Product Owners erfolgreich zu besetzen. Denn durch unsere “abgeteilte Berufsspezialisierung" sind wir leider immer wieder in Versuchung, Produkte zu eng, zu klein- und zu arbeitsteilig zu definieren, statt sich wirklich ganzheitlich entlang der Customer Journey auf ein Whole Product Concept einzulassen. So gewinnst Du mit dem Whole Product Concept einen völlig neuen Blick auf dein Produkt und vielleicht auch auf deine Organisation. Es lohnt sich.
Viel Erfolg dabei.
Andreas Diehl
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